Was bleibt, wenn das Jenseits verschwindet?

Nietzsche, die Metaphysik und die Geburt der Schattenontologie

Ein Beitrag von Erwin G. Ott vom 8. Juli 2025

Der Essay entwickelt vor dem Hintergrund von Friedrich Nietzsches Aphorismus 9 aus Menschliches, Allzumenschliches das Konzept der Schattenontologie als Aufklärung der Postmetaphysik, die sich damit auseinandersetzt, wie die strukturellen und affektiven Elemente der Metaphysik selbst nach ihrer kritischen Demontage im postmetaphysischen Denken weiterwirken. Nietzsche hatte die metaphysische Welt als psychologische Projektion und epistemischen Irrweg entlarvt und diese Einsicht in einem berühmten Bild zugespitzt: Selbst wenn das Jenseits existierte, so wäre seine Erkenntnis so gleichgültig wie die chemische Analyse des Wassers für einen Schiffbrüchigen. Doch diese Radikalität, so zeigt der Essay, greift zu kurz: Die Metaphysik ist nicht einfach tot – sie hat sich in die Tiefenstruktur des Denkens eingesenkt.

Die Schattenontologie versucht nicht, metaphysische Inhalte zu rehabilitieren. Vielmehr begreift sie das fortlebende „Jenseits“ als implizite, nicht geglaubte, aber gelebte Ontologie – als Residuen von Sinnhunger, Transzendenzsehnsucht und Letztbegründung, die in Sprache, Affekten und kulturellen Bildern weiter existieren. Der Essay schlägt vor, Nietzsches Metaphysikkritik nicht als Schlussstrich, sondern als Diagnose zu lesen, deren Konsequenzen erst im Licht einer genealogisch geschärften Ontologiekritik sichtbar werden.

In diesem Sinne wird die Tradition des apophatischen Denkens – von Dionysius Areopagita über Meister Eckhart bis zu Simone Weil – neu gelesen und postmetaphysisch produktiv gemacht. Nicht das Unsagbare als Heiliges steht im Zentrum, sondern das „nicht mehr Sagbare“ als Schatten der untergegangenen Transzendenz.

Die Schattenontologie operiert dabei als doppelter Gestus: Sie macht die unsichtbaren Fortwirkungen der Metaphysik sichtbar (phänomenologisch) und lehrt zugleich einen gelassenen,nicht-regressiven Umgang mit ihnen (therapeutisch). In kritischer Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Strömungen wie dem Posthumanismus, dem New Materialism und dem spekulativen Humanismus zeigt der Essay, dass viele dieser Denkbewegungen zwar explizit postmetaphysisch operieren, dabei aber oft unreflektiert alte affektive und ontologische Muster reinszenieren.

Die zentrale These lautet: Der Tod der Metaphysik entbindet nicht von der Auseinandersetzung mit ihr – er verpflichtet zu ihr. Schattenontologie ist der Versuch, diese Verpflichtung philosophisch einzulösen.