Die vernünftige Freiheit in postsäkularer Zeit

Das Projekt des Dritten Bandes zu Habermas’ Philosophiegeschichte

Mit „Die vernünftige Freiheit in der postsäkularen Konstellation“ hat sich Erwin Ott die Aufgabe gestellt, Jürgen Habermas’ monumentale Genealogie des Verhältnisses von Glaube und Wissen bis in die Gegenwart fortzuführen. Nach der Rekonstruktion des Diskurses durch Habermas von der Achsenzeit bis zur Auflösung der Metaphysik bei Hegel und Marx (Band I und II) widmet sich der dritte Band von Ott der Krise des Universalismus und den fundamentalen Herausforderungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Das Werk verfolgt die zentrale Frage: Wie kann die kommunikative Vernunft ihre normativen Geltungsansprüche in einer Welt aufrechterhalten, die das Subjekt und die Sprache radikal dezentriert hat?

Der Band setzt mit der epochalen Zäsur durch Friedrich Nietzsche ein, der den Nihilismus zum philosophischen Programm erhob. Mit dem „Tod Gottes“ zerfiel nicht nur die religiöse Gewissheit, sondern auch die metaphysische Garantie für das Wissen um objektive Wahrheit und Moral. Die Philosophie sah sich gezwungen, das Existenzielle (Kierkegaard, Sartre) in den Mittelpunkt zu rücken, um eine neue, kontingente Fundierung der Freiheit zu suchen.

Die größte Herausforderung für das Habermas'sche Projekt der Diskursethik kam jedoch von der Postmoderne. Im Zuge des Linguistischen Turnus wurde die Idee eines universalen Wissens systematisch zerstört. Denker wie Jean-François Lyotard diagnostizierten die Fragmentierung des Wissens in lokale, unverbundene Narrative. Noch schärfer formulierte Michel Foucault die Kritik, indem er das Wissen selbst als eine Funktion und Strategie der Macht entlarvte. Wenn jedes Argument nur der Ausdruck einer Herrschaftsbeziehung ist, wie kann dann die Vernunft ihre emanzipatorische Kraft bewahren? Ott verteidigt mit Habermas die kontrafaktische Unterstellung der Verständigungsorientierung als den einzigen Ausweg aus dem Totalitarismus der Macht.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Revision der Säkularisierungsthese. Das 21. Jahrhundert ist zutiefst postsäkular. Die Philosophie muss anerkennen, dass die religiöse Sprache eine kognitive Relevanz für die säkulare Öffentlichkeit behält, indem sie normative Gehalte (wie die Gottesebenbildlichkeit der Person) bewahrt, die die säkulare Vernunft nur mühsam übersetzen kann. Die Zumutung der Übersetzung wird somit zur zentralen Aufgabe der politischen Philosophie in der pluralistischen Demokratie.

Den radikalsten Bruch mit der Tradition behandelt das letzte Kapitel: die Konfrontation mit dem Post-Anthropozentrismus des New Materialism. Diese Denkrichtung, vertreten durch Denkerinnen wie Karen Barad, bricht mit dem Vorrang von Sprache und Kultur und betont die Agency der Materie. Sie zwingt die Vernunft zur Erkenntnis, dass Wissen nicht nur durch menschliche Diskurse, sondern durch Intra-Aktionen materieller und diskursiver Elemente entsteht. Die vernünftige Freiheit muss ihren Anspruch auf Solidarität und Verantwortung auf ein post-humanistisches Ethos ausweiten, um auf die Herausforderungen von Klima, globaler Technologie und Biopolitik adäquat reagieren zu können.

Otts abschließende These ist eine optimistische Skepsis. Das Werk endet nicht mit einer metaphysischen Gewissheit, sondern mit dem Glauben an die Vernunft selbst – einer kontrafaktischen Unterstellung, die notwendig ist, um die Möglichkeit der Kritik und der Verständigung in einer von Nihilismus, Szientismus und materieller Kontingenz bedrohten Welt aufrechtzuerhalten. Das Buch ist ein Appell zur pragmatischen Fortsetzung des unabgeschlossenen Projekts der Aufklärung.

Die einzelnen Kapitel werden hier in der Folge ihrer Entstehung sukzessive zur Lektüre bereitgestellt.

Auch eine Geschichte der Philosophie, Band III

Die vernünftige Freiheit in der postsäkularen Konstellation: Spuren des Diskurses über Glaube und Wissen von Nietzsche bis zur Materiellen Wende

I. Die Revolte gegen die Vernunft und das existenzielle Subjekt

Kapitel 3

Existenz und Entscheidung

II. Die Krise des Universalismus: Sprache, Macht und Narrative

Kapitel 4

Der Linguistische Turnus und die Relativierung des Wissens

Kapitel 5

Poststrukturalismus: Macht und Dekonstruktion der Wahrheit

Kapitel 6

Die Diskursethik als säkulare Antwort

III. Die postsäkulare Konstellation und der Szientistische Glaube

Kapitel 7

Die Wiederkehr des Religiösen in der Öffentlichkeit

Kapitel 8

Biopolitik und die Objektivierung der Person

Kapitel 9

Krise der Vernunft im Digitalen Zeitalter

IV. Die Materielle Wende: Post-Anthropozentrismus als ultimative Herausforderung

Kapitel 10

Der New Materialism: Kritik der Sprachzentriertheit

Kapitel 11

Post-Humanismus und neue Ethik der Verflechtung


Schlussbetrachtung

Die unabgeschlossene Dialektik des säkularen Lernprozesses

Anhang