Der vorliegende Essay entwickelt eine neo-materialistische Theorie der bildenden Kunst, die das Sichtbare nicht als Repräsentation, sondern als materielles Ereignis versteht. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die bildende Kunst bereits seit der historischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts ein Labor der Materialität bildet, in dem das Repräsentationsparadigma früher und radikaler infrage gestellt wurde als in Literatur oder Musik. Diese Verschiebung eröffnet ein Denken der Kunst, das nicht mehr primär auf Zeichen, Bedeutungen oder Intentionen ausgerichtet ist, sondern auf materielle Kräfte, Relationen und Prozesse, die Sichtbarkeit hervorbringen.
Der Essay rekonstruiert diese Entwicklung entlang dreier Leitlinien: (1) der Transformation des Bildes vom Abbild zum Akteur, der materielle Wirksamkeit besitzt; (2) der Einsicht, dass Formen nicht statisch sind, sondern prozessuale, zeitlich dynamische Konfigurationen materieller Selbstorganisation; und (3) der Erweiterung der Ästhetik um unsichtbare, energetische und affektive Dimensionen, die das Sehen als körperlich-materiellen Vollzug begreifbar machen.
Zugleich wird Kunst in ihren sozialen, technologischen und ökologischen Einbettungen analysiert: als Element von Materialströmen, Infrastrukturregimen, Aufmerksamkeitsökonomien und digitalen Bildpolitiken. Dabei zeigt sich, dass eine materialistische Ästhetik nicht bei der Analyse des Werks stehen bleiben kann, sondern die Politiken der Sichtbarkeit – ihre Bedingungen, Ausschlüsse und Machtwirkungen – mitdenken muss.
In der Schlussbewegung entwirft der Essay eine Ästhetik der Resonanz, in der Kunst als Denken der Materie erscheint: als epistemische Praxis, in der sich materielle Prozesse organisieren, reflektieren und transformieren. Die zentrale These lautet, dass Kunst nicht die Welt abbildet, sondern an ihrer Hervorbringung teilhat – indem sie Materie in neue Relationen bringt und Wahrnehmung als Teil dieser Prozesse begreift. Die offene Frage, mit der der Text endet, lautet daher: Wie denkt das Sichtbare uns?