Materialität des Lesens

Skizzen zu einer neo-materialistischen Literaturtheorie

Ein Beitrag von Erwin G. Ott vom 1. November 2025

Der Essay „Materialität des Lesens“ untersucht die Möglichkeit einer Literaturtheorie, die nicht von der Repräsentation, sondern von der materiellen Prozessualität der Sprache ausgeht. Ausgehend von der Diagnose, dass sich im Anthropozän die symbolische Ordnung selbst verflüssigt und die Differenz zwischen Zeichen und Stoff porös geworden ist, versteht der Text literarische Praxis als Ort, an dem sich materielle Kräfte – Schall, Schrift, Medium, Wahrnehmung – gegenseitig durchdringen und transformieren.

Im Zentrum steht die These, dass Literatur nicht Ausdruck eines Bewusstseins ist, sondern eine intra-aktive Formation, in der Bedeutung nicht produziert, sondern emergent wird. Lesen ist hier kein hermeneutischer Akt, sondern eine körperliche, zeitliche, affektive Erfahrung, in der Text, Medium und Wahrnehmung ein wechselseitiges Gefüge bilden. Der „Textkörper“ wird so zum Ort, an dem Materie selbst zu denken beginnt: Sprache wird vibrierend, fließend, widerständig – eine dynamische Form, die nicht auf Repräsentation, sondern auf Relation zielt.

Der Essay entwickelt seine Argumentation in einer Bewegung zwischen Ontologie, Ästhetik und Medientheorie. Er diskutiert die Spannung von Materialität und Form, von Affekt und Bedeutung, von Autorschaft und Leserschaft als zentrale Konfliktlinien einer post-repräsentationalen Literaturtheorie. Dabei werden klassische Kategorien – Werk, Autor, Text, Rezeption – nicht aufgehoben, sondern in ihrer materiellen Dimension neu konfiguriert.

In dieser Perspektive erscheint Literatur als ein ökologisches Gefüge, in dem Sprache, Medium, Wahrnehmung und soziale Infrastruktur untrennbar verwoben sind. Lesen bedeutet, sich in diese Gefüge einzuschreiben – als Teil eines Prozesses, in dem Materie spricht, ohne Stimme zu haben. Eine neo-materialistische Literaturtheorie ist damit nicht nur eine Theorie der Texte, sondern eine Theorie der Welt im Modus des Sprachlichen: Sie beschreibt, wie Denken, Fühlen und Materie in der literarischen Erfahrung in Resonanz treten – und wie diese Resonanz ein neues Verständnis von Ästhetik, Erkenntnis und Verantwortung ermöglicht