Kontingenz ohne Maß – Zur Unschärfe eines Schlüsselbegriffs der postmeta­phy­si­schen Phi­lo­so­phie

Ein Beitrag zur begrifflichen Rekonstruktion und Systematisierung

Ein Beitrag von Erwin G. Ott vom 20. Juli 2025

Der Begriff der Kontingenz erfreut sich in der gegenwärtigen Philosophie, Soziologie und Kulturtheorie großer Beliebtheit – doch diese Konjunktur geht mit begrifflicher Unschärfe, semantischer Überdehnung und epistemischer Vagheit einher. Kontingenz wird häufig metaphorisch, rhetorisch oder affirmativ verwendet, ohne dass ihre logischen, ontologischen oder empirischen Dimensionen systematisch differenziert würden. Dieses Paper setzt sich das Ziel, den Kontingenzbegriff begriffskritisch zu rekonstruieren und gegen seine inflationäre Entgrenzung zu verteidigen. Ausgehend von einer Genealogie der Kontingenz (von Aristoteles über Leibniz bis zur Postmetaphysik) wird gezeigt, wie in systemtheoretischen, dekonstruktiven und spekulativ-realistischen Ansätzen (etwa bei Luhmann, Butler, Meillassoux) eine Ambivalenz zwischen analytischer Bestimmung und ästhetischer Metaphorisierung wirksam ist.

Der zweite Teil der Arbeit entwickelt eine viergliedrige Systematik von Kontingenzformen (logisch, empirisch, technisch, soziologisch) und diskutiert deren Anwendbarkeit anhand von Fallbeispielen aus Physik, Simulationstheorie und Gesellschaftsanalyse. Dabei wird ein Vorschlag zur Entwicklung einer „Kontingenzlogik“ unterbreitet, der epistemische Klarheit mit pluralistischer Offenheit verbinden soll.

Der abschließende Teil plädiert für eine ethische Reflexion von Kontingenz jenseits von Beliebigkeit: Nur wenn Kontingenz nicht bloß als Abwesenheit von Notwendigkeit, sondern als bedingte Möglichkeit gedacht wird, kann sie in Wissenschaft, Politik und Lebenspraxis verantwortungsvoll operationalisiert werden. Das Paper versteht sich damit als Einladung zu begrifflicher Präzision – gegen eine kontingenzästhetische Selbstermächtigung des Denkens.