Was geschieht, wenn wir die Geschichte des Frühmittelalters nicht als dunkles Zwischenreich zwischen Antike und Hochmittelalter betrachten, sondern als einen Raum intensiver Machtverschiebungen, Wissensproduktionen und Subjektivierungsprozesse? Was, wenn wir aufhören, das Frühmittelalter entlang linearer Fortschrittsnarrative zu erzählen, und stattdessen seine diskursiven Brüche, seine genealogischen Verschlingungen und seine produktiven Unordnungen ins Zentrum rücken?
Diese Monographie versucht, eine solche Perspektivverschiebung zu vollziehen – nicht durch eine weitere Gesamtschau der politischen Ereignisse oder eine rekonstruktive Kulturgeschichte, sondern mittels eines genealogischen Zugriffs, wie ihn Michel Foucault in seinen Arbeiten zur Geschichte des Wahns, der Strafe, der Sexualität und der Gouvernementalität entwickelt hat. Genealogie im foucaultschen Sinne ist keine Suche nach Ursprüngen, sondern eine Analyse der historischen Bedingungen, unter denen bestimmte Formen des Wissens, der Macht und des Subjekts möglich wurden – und andere ausgeschlossen blieben.
Das Frühmittelalter, das traditionell als Epoche der Desintegration, der “Barbarisierung” oder der religiösen Homogenisierung beschrieben wird, erscheint in diesem Zugriff nicht als statische Übergangszeit, sondern als dynamisches Feld von Praktiken, Diskursen und Körperpolitiken. Es ist nicht das “dunkle Zeitalter”, sondern eine Phase intensiver Transformationen, in der neue Modi des Regierens, des Glaubens, des Urteilens und des Lebens aufkamen – häufig unter dem Deckmantel göttlicher Ordnung, häufig durchsetzt mit Gewalt, häufig aber auch durchzogen von Subjektivierung, Widerstand und kreativer Aneignung.
Ziel dieser Arbeit ist es, das Frühmittelalter nicht in seiner Faktizität zu beschreiben, sondern in seinen Machteffekten zu analysieren. Dabei stehen nicht die großen Kaiser, Heiligen oder Schlachten im Zentrum, sondern Praktiken: das Ordnen von Räumen und Zeiten, das Beichten, das Schreiben von Gesetzen, das Fasten im Kloster, das Urteilen vor Gericht, das Kartographieren des Anderen. All diese Praktiken stehen in einem dichten Netz von Diskursen, die nicht nur Wissen erzeugen, sondern Subjekte formen – Mönche, Richter, Königsdiener, Heiden, Christen.
Diese Arbeit gliedert sich in vier Teile: Zunächst wird der genealogische Zugriff als Methode entfaltet und für die Frühmittelalterforschung theoretisch fundiert. Im zweiten Teil folgen Analysen der Wissensproduktion im religiösen und monastischen Feld. Der dritte Teil widmet sich Machtpraktiken und Subjektivierungen, insbesondere im Kontext von Recht und Herrschaft. Der vierte Teil rückt Räume, Differenzen und Zeitordnungen in den Fokus – als Felder diskursiver Einschreibungen.
Die Wahl des genealogischen Zugriffs bedeutet, dass diese Studie weniger danach fragt, was im Frühmittelalter geschah, sondern vielmehr wie bestimmte Formen von Wahrheit, Norm, Subjekt und Macht möglich wurden. Sie will keine neuen Kontinuitäten begründen, sondern Diskontinuitäten erfahrbar machen. Und sie versteht das Frühmittelalter nicht als historisch Abgeschlossenes, sondern als genealogischen Resonanzraum, der bis in die Gegenwart nachhallt – sei es im Recht, in religiösen Ordnungen oder in der Konstruktion von Identität.