Materialität und Repräsentation im Porträt

Jenseits der Dichotomien

Ein Beitrag von Erwin G. Ott vom 12. September 2025

Der vorliegende Essay untersucht Anthony van Dycks Doppelporträt von John und Bernard Stuart als philosophischen Ausgangspunkt zur Neubestimmung des Verhältnisses von Materialität und Repräsentation. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass bestehende theoretische Ansätze – einerseits die physisch orientierten Konzepte des New Materialism, andererseits die diskursanalytischen Verfahren des Poststrukturalismus – in der Bildanalyse jeweils an ihre Grenzen stoßen. Während die einen den materiellen Vollzug des Bildes überbetonen, reduzieren die anderen es auf symbolische und semiotische Strukturen.

Anhand einer detaillierten Analyse von Figurenkonstellation, Stofflichkeit, Lichtführung und Blickachsen wird gezeigt, dass Van Dycks Porträt beide Dimensionen unauflöslich miteinander verknüpft: Pigmente, Lasuren und Texturen wirken nicht nur als physische Oberflächen, sondern entfalten zugleich soziale und politische Semantiken; die Blickrichtungen und Posen sind nicht bloß diskursive Marker, sondern Teil einer materiellen Präsenz, die Affekte generiert.

Der Essay schlägt daher eine relationale Theorie der Bildontologie vor, die Materialität und Repräsentation nicht als Gegensätze, sondern als ko-konstitutive Prozesse begreift. Das Bild erscheint in dieser Perspektive als performatives Feld, in dem physische, soziale und symbolische Dimensionen sich gegenseitig hervorbringen. Auf dieser Grundlage wird das Porträt als Modell einer spekulativen Ontologie gelesen, in der Kunstwerke nicht nur Objekte der Philosophie, sondern epistemische Akteure sind, die eigene Formen des Denkens entfalten.

Die Untersuchung führt zu einer theoretischen Öffnung: Bilder – sei es barocke Malerei, abstrakte Moderne oder digitale Visualität – operieren als materielle wie repräsentative Instanzen, die Welt nicht nur darstellen, sondern aktiv mitkonstituieren. Damit wird Kunstpraxis selbst als philosophische Praxis sichtbar, die im Medium des Materials und der Form ontologische Fragen entwirft.