Vom Archiv zur Plattform

Schatten des Wissens in Zeiten algorithmischer Überproduktion

Beitrag von Erwin G. Ott vom 24. Juni 2025

Dieses Paper entwickelt unter dem Leitbegriff der Schattenontologie eine kritische Theorie epistemischer Ordnungen im digitalen Zeitalter. Ausgehend von Michel Foucaults Archivbegriff wird gezeigt, wie sich die Bedingungen von Wissensformierung durch die algorithmische Logik von Plattformen und generativer KI tiefgreifend verschieben. Die klassische Vorstellung des Archivs als Ordnung des Sagbaren erweist sich in dieser Konstellation als unzureichend – nicht nur in quantitativer, sondern auch in struktureller Hinsicht.

Im Zentrum steht der Begriff der Latenz: jenes epistemischen Raums, in dem sich Bedeutungen entziehen, Wissen nicht artikuliert, aber vorausgesetzt wird, und das Reale nicht verschwindet, sondern im Entzug wirksam bleibt. Die Schattenontologie begreift Latenz nicht als Mangel, sondern als notwendige Ergänzung zum Archiv – als das, was ihm vorausgeht, was es strukturiert und zugleich überschreitet. Damit entsteht ein anderes Verständnis epistemischer Verantwortung: nicht im Zugriff, sondern im Verzicht; nicht im Sichtbarmachen, sondern im Wahrnehmen der Grenze.

Kapitel 1 rekonstruiert Foucaults Archiv als historisches Konzept und konfrontiert es mit der Dynamik digitaler Überproduktion. Kapitel 2 beschreibt die Plattform als aktualitätsgetriebene Gegenfigur zum Archiv – nicht ordnend, sondern generierend, nicht speichernd, sondern verwertend. Kapitel 3 führt mit der Schattenontologie eine Denkform ein, die das Unsichtbare nicht aufhebt, sondern anerkennt: als ontologische, epistemische und ethische Kategorie.

Kapitel 4 analysiert generative KI als Motor einer Ästhetik des Immergleichen – eine Maschine, die Differenz simuliert, während sie faktisch auf Wahrscheinlichkeit und Musterwiederholung basiert. Dabei zeigt sich, dass die Maschine zwar Daten produziert, aber kaum neue Latenzräume erschließt. Diese müssen – so die zentrale These – vom Denken selbst geschaffen und verteidigt werden.

Kapitel 5 entfaltet daraus eine Ethik der Unsichtbarkeit, eine fragmentarische Denkform als Widerstandspraxis und eine epistemologische Haltung, die Wissen nicht als Totalität, sondern als durchlässige, brüchige und entziehbare Formation versteht. Die Zukunft des Denkens liegt nicht in der Erweiterung der Archive, sondern in der Pflege der Latenz – als Ort des Noch-nicht, des Nicht-mehr, des Nicht-ganz.

Die Schattenontologie schlägt damit kein neues System vor, sondern eine Grenzfigur – ein Denken in Schwellen, in Zwischenräumen, in Unentscheidbarkeiten. Sie ist keine Absage an Technologie, sondern eine Einladung zur kritischen Haltung gegen ihre epistemische Vollständigkeitsfiktion.