Die Vorlesungsreihe „Jenseits des Sagbaren: Eine Einführung in die Schattenontologie und das Apophatische Denken“ bietet eine umfassende Erkundung einer philosophischen Strömung, die sich bewusst dem Nicht-Verfügbaren, dem Unsagbaren und dem sich Entziehenden zuwendet. In einer von Transparenzidealen und dem Glauben an vollständige Beherrschbarkeit geprägten Epoche diagnostiziert diese Reihe die Grenzen des Verfügbarkeitspathos und entwickelt eine „philosophische Disziplin der Schattenarbeit“, die eine „negative Klarheit“ anstrebt.
Der erste Teil der Vorlesung, „Grundlagen und Genealogie des apophatischen Denkens“, zeichnet die historischen Wurzeln dieser Denkfigur nach. Beginnend bei den Vorsokratikern (Heraklit, Parmenides, Xenophanes) wird das frühe Ringen mit Sein und Nicht-Sein, Wandel und Dauer sowie der Kritik anthropomorpher Gottesvorstellungen beleuchtet. Es folgt die tiefgreifende Bedeutung Platons, dessen „Idee des Guten jenseits des Seins“ und das Höhlengleichnis als paradigmatische Modelle für die Transzendenz des Ineffablen und die Dialektik von Präsenz und Abwesenheit analysiert werden. Die metaphysische Radikalisierung der Apophatik durch Plotins „Das Eine“ als absolut transzendentem und ineffablem Ursprung der Emanation bildet die Brücke zur frühchristlichen Apophatik, insbesondere des Pseudo-Dionysius Areopagita. Seine Lehre von der „überwesentlichen Dunkelheit“ Gottes und der via negationis prägte die Gottesrede nachhaltig. Die Scholastik (Johannes Scotus Eriugena, Thomas von Aquin) integrierte diese Traditionen in ihre systematischen Entwürfe, wobei Eriugena Gott als „superessentielles Nichts“ dachte und Thomas die „docta ignorantia“ als höchste Erkenntnis postulierte. Die radikale mystische Apophatik Meister Eckharts, dessen Unterscheidung von „Gottheit“ und „Gott“ sowie die Konzepte des „Seelengrunds“ und der „Gelassenheit“ die Grenzen des Sagbaren auf existenzielle Weise ausloten, bildet den Abschluss der mittelalterlichen Entwicklung.
Die Genealogie des apophatischen Denkens setzt sich in der Neuzeit fort. Die Apophatik der Aufklärung bei Kant wird als Reflexion über die Grenzen der Vernunft und das „Ding an sich“ als unzugängliches Phänomen beleuchtet, wodurch ein säkularer Raum für das Unsagbare geschaffen wird. Die Romantik mit Denkern wie Schelling interpretiert die Negativität neu als Ausdruck des Absoluten und der Dialektik von Licht und Dunkelheit. Heideggers Auseinandersetzung mit dem Nichts als Horizont des Daseins und der Rolle des Verbergens im Sein vertieft die apophatische Dimension der Seinsfrage. Die Kritische Theorie bei Adorno nutzt die Negative Dialektik als erkenntniskritisches Prinzip, um die Bedeutung des Nicht-Identischen und den Widerstand gegen affirmative Systeme hervorzuheben. Den Abschluss der historischen Entwicklung bildet der Poststrukturalismus (insbesondere Derrida), der als „negative Theory of Everything“ die Dekonstruktion, die Differenz und den Entzug des Sinns betont, wodurch die Leere als letzte Metapher nach der Kritik an metaphysischen Totalisierungsansprüchen verbleibt.
Der zweite Teil, „Grundbegriffe der Schattenontologie nach Erwin Ott“, systematisiert das apophatische Denken anhand von vier zentralen Begriffen:
- Verdunkelung: Ein Modus ontologischen Erscheinens, bei dem das Reale sich manifestiert, indem es sich zugleich entzieht.
- Nichtverfügbarkeit: Eine metaphysische Kategorie, die den Widerstand des Realen gegen vollständige Beherrschung und epistemische Gewalt beschreibt.
- Transklusion: Ein Modus des teilweisen Erscheinens, bei dem das Verborgene durch das Sichtbare hindurchscheint, ohne sich aufzulösen.
- Exosition: Eine philosophische Haltung der Selbstentblößung und Empfänglichkeit gegenüber dem Unzugänglichen.
Der dritte Teil, „Methodologie und systematische Einbettung“, untersucht die Implikationen dieser Philosophie für verschiedene Bereiche: das Philosophieren im Modus der Dunkelheit als „negative Klarheit“ und „epistemische Bescheidenheit“, die Rolle von Sprache und Stil (Schweigen, Andeuten, Fragmentieren), die Konzeption des Seins als „nicht ganz Zugängliches“ und die Notwendigkeit einer „ontologischen Gerechtigkeit“. Darüber hinaus werden die Relevanz der Schattenontologie für die Erkenntnistheorie des Entzugs, eine „Ethik der Verantwortung im Unsagbaren“, sowie ihre Anwendung in der Wissenschafts- und Technikphilosophie (z.B. Dunkle Materie, Schatten der Kybernetik), der Medienphilosophie (digitale Schattenräume, algorithmische Überproduktion) und der Kunstästhetik (Musik als Sprache des Schweigens) erörtert.
Die Vorlesungsreihe kulminiert in der Erkenntnis, dass die Schattenontologie ein hochrelevantes Denkwerkzeug für das 21. Jahrhundert ist. Sie ermöglicht es, die Komplexität und Unübersichtlichkeit der Gegenwart zu navigieren, fördert eine kritische Haltung gegenüber totalisierenden Ansprüchen und kultiviert eine Resilienz gegenüber Unsicherheit. Sie lädt dazu ein, das Unsagbare nicht als Leere, sondern als produktive Tiefe zu begreifen und die Grenzen des Wissens als produktive Horizonte für eine verantwortungsvolle und demütige Philosophie zu verstehen.